26. Kapitel

 

Ich habe zwei von Patricks Männern zur Bewachung abgestellt. Bei ihnen sind die Gefangenen in sicherem Gewahrsam.«

Mikhail nickte und leerte sein Glas Whisky in einem Zug. Er hatte seit einiger Zeit eine Vorliebe für das schottische Nationalgetränk entwickelt, was natürlich auf Patrick zurückzuführen war, der nicht nur Oberhaupt seines Clans, sondern vor allem durch und durch Schotte war - im Gegensatz zu dem Vampir, der nun vor ihm stand und der durch und durch Osmane war.

»Du musst mir alles erzählen. Aber zuerst muss ich wissen, ob Nell und die Kinder sicher bei meiner Schwester eingetroffen sind?« Mikhails Augen wanderten unwillkürlich zu dem funkelnden Brieföffner, der wieder unschuldig und sauber auf seinem Schreibtisch lag. Der Teppich war entfernt, die Dielen geputzt und poliert worden. Und offenbar hatte man auch gleich die Mordwaffe gesäubert. Nein, nicht Mordwaffe. Es war reine Notwehr gewesen.

»Ja, die Kinder sind daheim und in Sicherheit. Aber von jemandem namens Nell war nicht die Rede, nur von einer gewissen Lady Denver«, antwortete Ismail.

»Lady Denver?« Mikhail runzelte die Stirn. Was hatte Caroline in London zu suchen, und wo war Nell?

»Ja«, fuhr Ismail fort, »sie hat die Kinder nach London gebracht. Wir scheinen tief in ihrer Schuld zu stehen. Sie erzählte, wie schwierig die Reise gewesen sei und wie anstrengend, mit zwei schreienden Kindern und zwei unfähigen Zofen.«

Zofen. Caroline musste Nell und Morag meinen. Aber warum seine Nachbarin selbst nach London gereist war, begriff Mikhail nicht. Ebenso wenig, warum sie sich so abfällig über Nell und Morag äußerte. Aber er war erleichtert, dass sie es alle sicher nach London geschafft hatten.

Sein Blick richtete sich abermals wie von selbst auf den Brieföffner, und er trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. »Würde es dir etwas ausmachen, wenn wir auf die Terrasse gehen? Ich habe dort einen kleinen Imbiss vorbereiten lassen. Ich habe seit Ewigkeiten nichts mehr gegessen.«

»Selbstverständlich.« Ismail nickte und folgte Mikhail nach draußen. Dort war tatsächlich bereits der Tee vorbereitet worden. Beide Männer nahmen Platz.

»Du hast deine Sache sehr gut gemacht, Mikhail. Die Clans stehen tief in deiner Schuld. Du hast die Auserwählten beschützt.«

Mikhail nahm sich ein Gurkensandwich und schob sich das kleine Dreieck in den Mund. Nachdem er gekaut hatte, sagte er: »Das ist meine Familie, und ich fühle mich für sie verantwortlich. Dass sie gleichzeitig Auserwählte‹ sind, spielt keine Rolle. Kein Mann braucht Dank dafür, dass er seine Familie beschützt.«

Der Osmane nickte lächelnd. Den angebotenen Imbiss lehnte er höflich ab. Mikhail hatte sich derart an die Gesellschaft von Vampiren gewöhnt, dass er manchmal vergaß dass sie ja nichts aßen. Nicht dass sie nichts essen konnten, sie wollten nur gewöhnlich nicht, da ihnen Blut -Tierblut - alles gab, was sie brauchten.

»Du sagst, dass die Gefahr vorüber sei. Heißt das, ihr habt alle Anhänger der Wahren Vampire entlarvt?«

»Ja. Zumindest jene, von denen wir glauben, dass sie hinter den Anschlägen auf die Auserwählten stecken. Einige von ihnen scheinen auch menschliche Attentäter angeheuert zu haben, aber das sind nur Raufbolde und Schläger, nichts worüber wir uns Sorgen machen müssten. Sie wissen nichts von Vampiren. Man hat ihnen lediglich gesagt, sie würden nur dann bezahlt werden, wenn sie ihren Opfern den Kopf abschlagen oder die Leichen verbrennen.«

Mikhail schnitt eine Grimasse. Diese Schurken auf dem Schiff hatten auch versucht, ihnen an die Kehle zu gehen!

»Kein Stich ins Herz?«

Ismail zuckte mit den Schultern. »Die Wahren Vampire haben den Menschen wohl nicht zugetraut, genau genug zu treffen.«

»Na herrlich«, sagte Mikhail sarkastisch.

»Du solltest so schnell wie möglich nach London zurück reiten. Deine Schwester macht sich große Sorgen um dich.«

Als Mikhail zögerte, fuhr der Osmane fort: »Du hast dich sehr geschickt angestellt, was das Verhör der Halunken betrifft. Ich werde sichergehen, dass sie nichts ausgelassen haben, und dann die Behörden verständigen.«

Mikhail hob fragend die Braue.

»Die menschlichen Behörden«, beantwortete Ismail die unausgesprochene Frage. »Diese Männer wissen nichts über uns. Sie müssen von deinen Gerichten verurteilt werden.«

»Und falls es noch andere wie sie gibt?«

»Das sind gedungene Mörder, Mikhail. Sie wurden von Vampiren bezahlt. Also werden sie schnell aufhören, die Kinder zu verfolgen, wenn sie merken, dass die Bezahlung ausbleibt. Und bis dahin werden wir auf der Hut sein, verlass dich darauf. Aber keine Sorge, es sind bloß Menschen.«

Mikhail war erleichtert. Aber nicht, weil Ismail glaubte, dass die Gefahr vorüber sei, sondern weil Nell in London war. Solange sie bei den Kindern war, konnte den Kleinen nichts zustoßen.

»Und jetzt?«

Ismail lehnte sich seufzend zurück. »Patrick will seinen Clan zusammenrufen. In zwei Wochen wird eine Versammlung in einem Waldstück stattfinden.«

Eine Versammlung in einem Wald. So etwas hatte Mikhail bisher erst einmal erlebt: als seine Schwester dem Nordclan vorgestellt worden war. Normalerweise fanden solche Treffen nur zu Begräbniszeremonien statt.

»Für eine Begräbniszeremonie?«, erkundigte sich Mikhail, aber Ismails plötzlich verschlossener Gesichtsausdruck verriet ihm, dass es sich um etwas anderes handelte.

»Viele der Wahren Vampire haben sich nicht freiwillig ergeben.«

Mikhail wusste, was Ismail damit meinte. Jene, die sich nicht ergeben hatten, waren an Ort und Stelle getötet worden.

»Patrick wird seinen Clansleuten bei diesem Treffen erklären, was geschehen ist. Delphine und zwei andere wurden lebend gefasst. Ihre Bestrafung wird an Ort und Stelle erfolgen, um ein Exempel zu statuieren.«

Eine öffentliche Hinrichtung, dachte Mikhail schaudernd. Seine arme Schwester würde das mit ansehen müssen. Die anwesenden Vampire würden sich mit eigenen Augen davon überzeugen wollen, dass den Auserwählten nichts zugestoßen war. Und danach würde es doch noch eine Begräbniszeremonie werden - eine Bestattung der Hingerichteten.

»Ich werde jetzt besser gehen.« Mikhail schob seinen Stuhl zurück. »Ich will nicht, dass meine Schwester noch glaubt, sie sei mich endgültig los.«

Aber sein Scherz klang lahm, selbst in seinen Ohren. Jetzt, wo er zum ersten Mal ein wenig zur Ruhe kam und guten Grund zu der Annahme hatte, dass die Gefahr vorüber war, begannen ihn die Ereignisse des letzten Monats einzuholen. Auf einmal hatte er das Gefühl, von allen möglichen, widerstreitenden Gefühlen zerrissen zu werden. Mikhail war so lange auf der Hut gewesen, nervös, wachsam, dass er nun, da die Anspannung von ihm abfiel, erst merkte, wie erschöpft, ja ausgelaugt er war. Mikhail war beinahe übel.

Ismail missverstand die zitternden Hände seines Freundes. Mitfühlend sagte er: »Die Prinzessin weiß, dass du noch am Leben bist, Mikhail.« Er deutete auf die feine Narbe an Mikhails linkem Handgelenk. »Blut wirkt bei uns auf viele Weisen. Es hat eine Art, uns miteinander verbinden.«

Mikhail berührte die Narbe. Er konnte sich noch lebhaft an jene Nacht erinnern, als seine Schwester beinahe gestorben wäre und er ihr Blut spenden musste. Er hatte es gern getan, würde es jederzeit wieder tun. Er würde, wenn es sein musste, für sie sterben. Oder für die Kinder.

Oder für Nell. Auch für Nell würde er ohne Zögern sein Leben hingeben.

Diesen verräterischen Gedanken verdrängend setzte Mikhail ein müdes Lächeln auf.

»Das ist gut.«

Ismail runzelte die Stirn. »Du nimmst dir doch sonst nichts zu Herzen, Mikhail Belanow. Was ist los mit dir?«

»Was los ist? Ich hab meinen Verstand verloren, Ismail, das ist los.«

»Und an wen hast du deinen Verstand verloren, mein Freund?«

Mikhail merkte, dass er zu viel verraten hatte, und stand abrupt auf. Vampire konnten Gedanken lesen, das wusste er ebenso gut, wie er wusste, dass Ismail nicht seine Gedanken gelesen hatte. Dafür war der Osmane viel zu rücksichtsvoll. Aber er war scharfsinnig und einfühlsam. Viel zu einfühlsam.

Mikhail straffte den Rücken und ließ seinen Blick über den Park des Anwesens schweifen. »Es wird bald dunkel. Ich muss aufbrechen.«

Mit einem Nicken verabschiedete er sich von dem Vampir und ging, um sich ein Pferd zu satteln. Auf dem Weg zum Stall kam ihm der Gedanke, dass es ihn eigentlich hätte überraschen sollen, dass durch seine Blutspende ein derartiges Band zwischen ihm und seiner Schwester entstanden war, aber das tat es nicht. Er war mit einer Schwester aufgewachsen, die gar nicht anders konnte, als seine und die Gedanken anderer zu lesen. Er hatte gelernt, einen Vampir als Schwager zu akzeptieren, und nun hatte er sich ausgerechnet in eine Frau verliebt, die hellsehen konnte.

Mikhail Belanow bezweifelte, dass ihn in seinem Leben noch viel überraschen könnte.

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